Zoff zwischen Bayern und Tirol: Das Chaos an der Grenze geht weiter

München (Oberbayern, 14.02.2021) – Die Verordnung des deutschen Bundesinnenministerium, die Grenzübergänge nach Tirol ab Sonntag, 0 Uhr, wegen der südafrikanischen Corona-Mutation auch für Pendler zu schließen, hielt nur 12 Stunden. Am Sonntag Mittag korrigierte das Ministerium von Horst Seehofer die Entscheidung. Dennoch geht das Chaos weiter, weil viele Fragen nach wie vor nicht geklärt sind. Unterdessen reagierte die Tiroler Landesregierung und kontrolliert ab sofort Lkws bereits bei der Einreise nach Tirol am Brenner, ob die für die Weiterreise nach Deutschland plötzlich notwendigen Papiere vorliegen. Man wolle so, so heißt es aus Innsbruck, verhindern, dass Tirol zum Parkplatz von Europa wird. Erwartet wird, dass damit der Warenverkehr über die Alpen massiv behindert wird. So warnt die deutsche Automobilindustrie bereits vor Produktionsstopps (siehe unten).

Rückblick: Am Freitag Abend hatte das deutsche Bundesinnenministerium erklärt (ALPENmag berichtete), dass ab Sonntag die Grenzübergänge von Tirol geschlossen werden. Nur noch Deutsche sowie Lkw-Fahrer, medizinisches Personal und Landwirtschaftskräfte dürften einreisen, müssten sich aber anmelden, einen negativen Corona-Test vorlegen und verpflichtend eine zehn- bzw. mit Freitestung fünftägige Quarantäne machen.

Sprich: Auch Lkw-Fahrer müssten dann laut Bundesinnenministerium am Grenzübergang Kufstein – Kiefersfelden eine mehrtägige Zwangspause einlegen. Auf Nachfrage von ALPENmag musste das Bundesinnenministerium allerdings am Samstag einräumen, für die Quarantäneregelung gar nicht zuständig zu sein. Das ist nämlich in Deutschland Ländersache. Am Samstag änderte Bayern daraufhin die Quarantäneverordnung und ließ die Einreise für alle Pendler zu, die für „die Aufrechterhaltung betrieblicher Abläufte dringend erforderlich und unabdingbar sind“. Nur: Diese Ausnahmeregelung gilt ausschließlich für Deutsche, weil Bundesrecht vor Landesrecht greift. Für Tiroler, die in Bayern arbeiten, galt das also nicht.

Am Sonntag Mittag korrigierte dann das Bundesinnenministerium seine Verordnung. Diese Regelung gilt aber nur bis Mittwoch. Bis dahin haben die Ländern Bayern und Sachsen Zeit, selbst zu bestimmen, welchen Berufsgruppen die Einreise aus Österreich und Tschechien gestattet wird.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Sonntag am Grenzübergang Schirnding Foto: Bayerische Staatskanzler

Im Wortlaut

Bundesinnenministerium: Einreise für systemrelevante Berufspendler

„Im Rahmen seit dem 14.02.2021 vorübergehend wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen gelten zusätzlich Ausnahmen für:

Beschäftigte, die zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Betrieben unverzichtbar sind. (Ziffer 2 der „Mitteilung der Kommission – Leitlinien zur Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte während des COVID-19-Ausbruchs (2020/C 102 I/03“)

Im Rahmen der vorübergehenden Binnengrenzkontrollen sind dazu folgende Nachweise erforderlich:

  • bis Ablauf des 16.02.2021:
    Glaubhaftmachung durch Einreisende, dass eine Beschäftigung nach Ziffer 2 der „MITTEILUNG DER KOMMISSION – Leitlinien zur Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte während des COVID-19-Ausbruchs (2020/C 102 I/03)“ ausgeübt wird (u.a. durch Mitführung eines Arbeitsvertrags bei Einreise und Vorlage auf Verlangen der Kontrollbehörden)
  • ab 17.02.2021:
    Beschäftigte der von den Landesbehörden Bayern und Sachsen nach Ziffer 2 der „MITTEILUNG DER KOMMISSION – Leitlinien zur Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte während des COVID-19-Ausbruchs (2020/C 102 I/03)“ definierten Betriebe; Erteilung von individualisierten amtlichen Bescheinigungen (Betrieb und Person) durch die jeweiligen Landesbehörden in Bayern und in Sachsen, die bei Einreise mitzuführen und auf Verlangen der Kontrollbehörden vorzulegen sind.

Welche Betriebe in Sachsen und Bayern innerhalb der systemrelevanten Berufsbranchen konkret unter die ergänzenden Ausnahmetatbestände fallen, legen die Bundesländer Bayern und Sachsen in eigener Verantwortung fest.

Die Bundespolizei wurde vom Bundesinnenministerium angewiesen, die Einhaltung der Regelungen unter Berücksichtigung der erforderlichen Nachweispflichten an den Grenzen zu Tschechien und Österreich zu kontrollieren. Personen, die oben genannte Voraussetzungen nicht erfüllen, werden zurückgewiesen.

Die Vorgaben der Coronavirus-Einreiseverordnung bleiben unberührt.“

Was sind systemrelevante Berufspendler?

In den „Leitlinien zur Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte während des COVID-19-Ausbruchs“ der EU-Kommission (2020/C 102 I/03) heißt es dazu im laut Amtsblatt der Europäischen Union:

Achtung: Diese Ausnahmeregelung betrifft nur Nicht-Deutsche, da deutsche Staatsbürger über die Ausnahmeregelung des Freistaates Bayern einreisen können (siehe oben).

Im Wortlaut:

2. Die Wahrung der Freizügigkeit aller mit systemrelevanten Funktionen betrauten Arbeitskräfte, einschließlich der Grenzgänger und der entsandten Arbeitnehmer, ist von wesentlicher Bedeutung. Die Mitgliedstaaten sollten Arbeitskräften die Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats und den ungehinderten Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gestatten, wenn sie insbesondere einen der folgenden Berufe ausüben (7):

  • Berufe im Gesundheitswesen, einschließlich paramedizinischer Fachkräfte;
  • Betreuungsberufe im Gesundheitswesen, einschließlich Betreuungspersonal fürKinder, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen;
  • wissenschaftliche Experten im Gesundheitssektor;
  • Arbeitskräfte in der Arzneimittel- und Medizinprodukteindustrie;
  • Arbeitskräfte, die an der Lieferung von Waren beteiligt sind, insbesondere an der Lieferkette von Arzneimitteln, medizinischen Hilfsmitteln, Medizinprodukten und persönlichen Schutzausrüstungen, einschließlich ihrer Installation und Wartung;
  • akademische und vergleichbare Fachkräfte in der Informations-und Kommunikationstechnologie;
  • Informations- und Kommunikationstechniker sowie sonstige Techniker für die grundlegende Instandhaltung der Ausrüstung;
  • Berufe im Bereich des Ingenieurwesens, wie Ingenieure, Energie- und Elektrotechniker;
  • Personen,die an systemrelevanten oder anderweitig wesentlichen Infrastrukturen arbeiten;
  • ingenieurtechnische und vergleichbare Fachkräfte (einschließlich Wasserwerker);
  • Schutzkräfte und Sicherheitsbedienstete;
  • Berufsfeuerwehrleute / Polizisten / Gefängnisaufseher / Sicherheitswachpersonal / Katastrophenschutzkräfte;
  • Personen, die in der Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln tätig sind, sowie verwandte Berufe und Wartungspersonal;
  • Bediener von Maschinen für Lebensmittel und verwandte Erzeugnisse (einschließlich Lebensmittelproduktionsmit­arbeiter);
  • Arbeitskräfte im Verkehrssektor (8), insbesondere:
    • Personenkraftwagen-, Kleintransporter- und Kraftradfahrer (9), Fahrer schwerer Lastkraftwagen und Busse (einschließlich Busfahrer und Straßenbahnführer) sowie Rettungswagenfahrer, einschließlich Fahrer, die für die Beförderung im Rahmen des Katastrophenschutzverfahrens der Union eingesetzt werden, und Fahrer, die EU- Bürger im Zuge ihrer Rückkehr aus einem anderen Mitgliedstaat an ihren Herkunftsort befördern;
    • Linienflugzeugführer;
    • Schienenfahrzeugführer; Wagenmeister, Instandhaltungstechniker sowie Personal von Infrastrukturbetreibern, das mit der Verkehrssteuerung und Kapazitätszuweisung betraut ist;
    • ArbeitskräfteinderSee-undBinnenschifffahrt;
  • Fischer;
  • mit systemrelevanten Funktionen betrautes Personal von öffentlichen Einrichtungen, einschließlich internationaler Organisationen.

Was weiterhin unklar ist:

Update: Die Transitstrecken Großes Deutsche Eck und Kleines Deutsche Eck wurden mittlerweile gesperrt. Österreicher und andere Nicht-Deutsche, die nicht unter die Ausnahmenregelung fallen, müssen über die Landstraße ausweichen, was zu massiven Verzögerungen führt.

Nicht geregelt ist der Transit über das Große Deutsche Eck und das Kleine Deutsche Eck. Der ORF berichtete am Sonntag, dass an den Grenzübergängen Salzburg und Kufstein in einigen Fällen Reisende nur einen negativen Coronatest vorzeigen mussten, in anderen Fällen aber zurückgewiesen worden sind.

Mittlerweile ist der Ärger in Tirol über das Grenzchaos groß. So kritisierte Tirols Landeshauptmann Günther Platter in ungewöhnlicher Schärfe den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und bezeichnete ihn als „letztklassig“.

Wehrt sich gegen Diffamierungen aus Bayern: Tirols Landeshauptmann Günther Platter

Seit Wochen lässt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder keine Gelegenheit aus, um Attacken gegen Tirol zu reiten. Diese ständigen abschätzigen Bemerkungen sind letztklassig und eines Ministerpräsidenten nicht würdig. So geht man mit Nachbarn nicht um. Den von Söder erhobenen Vorwurf, dass die Tirolerinnen und Tiroler die Pandemiebekämpfung nicht ernst nehmen würden, weise ich auf das Schärfste zurück. Tirol hat aktuell die niedrigste 7-Tages-Inzidenz in Österreich – niedriger als in vielen bayerischen Landkreisen. Das zeigt, dass die Maßnahmen wirken und die Tirolerinnen und Tiroler bei der Eindämmung der Pandemie an einem Strang ziehen.

Die südafrikanische Virusmutation ist ohne Frage eine neue, große Herausforderung. Tirol geht hart und konsequent dagegen vor. Uns muss aber auch bewusst sein, dass diese Mutationen – sowohl die südafrikanische als auch die britische – bereits in ganz Europa kursieren. Laut aktuellem WHO-Report wurde die südafrikanische Virusmutation weltweit bereits in rund 40 Ländern nachgewiesen, darunter viele Staaten der Europäischen Union und auch Deutschland. Diese Pandemie und auch die Mutationen lassen sich nur in einem gemeinsamen Schulterschluss bewältigen. Grenzschließungen sind kein geeignetes Mittel in der Pandemiebekämpfung – das haben wir im letzten Frühjahr gesehen. Denn das Virus kennt keine Grenzen.

Um die wirtschaftlichen Schäden durch das von Bayern forcierte Hochfahren der Grenzen möglichst gering zu halten, braucht es dringend Ausnahmeregelungen für die tausenden Berufspendlerinnen und -pendler dies- und jenseits der Grenze. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie nächste Woche nicht mehr zu ihren Arbeitsstätten gelangen können. Auch die Europäische Union ist gefordert, hier entsprechend Druck zu machen!

Tirols Landeshauptmann Günther Platter auf Facebook

Selbst die deutsche Autoindustrie warnt mittlerweile vor den Grenzschließungen. Durch die zu erwartenden Probleme an den Grenzübergängen werde die Automobilproduktion bereits ab Montagmittag größtenteils zum Erliegen kommen, teilte ein Sprecher des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) am Sonntag in Berlin mit. „Die Werke in Ingolstadt, Regensburg, Dingolfing, Zwickau und Leipzig sind als erste betroffen.“ Die Autoindustrie fordert deshalb, bis zum Aufbau ausreichender Testkapazitäten an den Grenzen, mindestens aber für die nächsten vier Tage, auf eine ärztliche Testbestätigung zu verzichten und ersatzweise Selbstschnelltests für Fahrer zuzulassen.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) Tirol kommentiert den deutschen Alleingang als „absoluten Wahnsinn“. Tirols ÖGB-Vorsitzender Philip Wohlgemuth: „Die Beschäftigten erfahren am Freitag Abend, dass sie ab Montag quasi nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz gelangen. Das bedeutet Null Planbarkeit!“, so Wohlgemuth. Er forderte ein sofortiges Einlenken von deutscher Seite. Ebenso sieht es Tirols FPÖ-Obmann Markus Abwerzger, der die Grenzschließung als „untragbar“ und als „ein Affront gegenüber der Tiroler Bevölkerung“ bezeichnete.

AK denkt rechtliche Schritte an

Vom Tiroler Arbeiterkammer-Präsidenten Erwin Zangerl hieß es am Samstagabend in einer Aussendung, man werde rechtliche Schritte gegen Bayern prüfen, wenn Pendlern Schaden erwachsen sollte. Seit Monaten würden Berufspendler von Seiten der bayerischen Landesregierung schikaniert, heißt es von Zangerl. Die machtpolitischen Spiele zwischen Bayern und dem deutschen Innenministerium würden zulasten der Beschäftigten und Unternehmen gehen. Abgesehen davon habe Bayern selbst ein großes Problem mit Virusmutationen, Tirol aber zum Mutationsgebiet erklärt.