NoCovid-Strategie: Was die 14 Experten jetzt raten

München (Oberbayern, 25. März 2021) – Die Initiative #NoCovid besteht aus 14 interdisziplinären Experten, Wissenschaftlern und Unterstützern aus diversen Sektoren, die sich aus eigenem Antrieb für ein effizienteres, regional differenziertes Pandemiemanagement einsetzen. Mitglieder der Initiative sind Prof. Dr. Menno Baumann (Pädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf), Dr. Markus Beier (Medizin, Allgemeinmediziner, Vorsitzender Bayerischer Hausärzteverband), Prof. Dr. Melanie Brinkmann (Virologie, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung Braunschweig), Prof. Dr. Dirk Brockmann (Physiker, Humboldt Universität Berlin), Prof. Dr. Heinz Bude (Soziologie, Universität Kassel), Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest (Ökonomie, ifo Institut und LMU München), Ass. jur. Denise Feldner, M.B.L. (Jura, Technologierecht, Crowdhelix/KU Leuven Germany), Prof. Dr. Michael Hallek (Medizin, Internist, Klinik I für Innere Medizin, Universität zu Köln), Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch (Global Public Health, Graduate Institute Geneva, WHO-Beraterin, GPMB), Prof. Dr. Maximilian Mayer (Politikwissenschaft, CASSIS, Universität Bonn), Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann (Physik, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung Braunschweig), Prof. Dr. Andreas Peichl (Ökonomie, ifo Institut und LMU München), Prof. Dr. Elvira Rosert (Politikwissenschaft, Universität Hamburg/IFSH) und Prof. Dr. Matthias Schneider (Physik, TU-Dortmund). Außerdem unterstützt Vincent Brunsch vom New England Complex Systems Institute die #NoCovid-Initiative.

Anbei die aktuelle Stellungnahme im Wortlaut.

Stellungnahme der Autorinnen und Autoren der No-COVID-Strategie zur aktuellen Pandemielage in Deutschland

Berlin, 25. März 2021

Mit wachsender Besorgnis beobachten wir die derzeitige Entwicklung der Pandemiesituation. Als die Infektionszahlen Mitte Februar nicht mehr fielen, blieben Maßnahmen aus, die den Abwärtstrend hätten stimulieren können. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang März wurden sogar weitere Öffnungsschritte weitgehend ohne Vorkehrungen gegen dadurch ausgelöste vermehrte Infektionen beschlossen, obwohl zu diesem Zeitpunkt ein erneuter exponentieller Anstieg der Fallzahlen bereits begonnen hatte und sich die infektiösere SARS-CoV-2 Mutante B.1.1.7 durchzusetzen begann. Die am Montag dieser Woche vereinbarte Osterruhe wurde inzwischen zurückgenommen. Welche Schritte stattdessen ergriffen werden sollen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen, blieb offen. Weder gibt es ein definiertes Ziel noch eine klare Strategie der Pandemiebekämpfung. Wichtige Eindämmungsinstrumente werden nach wie vor nicht wirksam eingesetzt: Kontaktnachverfolgung, Teststrategie und Impfungen. Nach einem Jahr Pandemie, mit einer zermürbten Bevölkerung und einer beschädigten Wirtschaft, wurde Deutschland so in eine dritte, allen Projektionen nach sehr heftige, Pandemiewelle gesteuert.

Die politischen Debatten wirken teilweise uninformiert, das politische Handeln erscheint desorientiert und entkoppelt von der Position der Bevölkerungsmehrheit – nämlich, dass ungeschützte Öffnungen trotz steigender Infektionen abzulehnen sind und mehr getan werden muss, um die Pandemie einzudämmen. Nach dem Infektionsschutzgesetz gültige Inzidenzgrenzwerte wurden ignoriert, gefasste Beschlüsse aufgeweicht. Wiederkehrende Diskussionen, die 7-Tages-Inzidenz durch Kennzahlen wie die Belegung der Intensivbetten oder die nach Alter differenzierte Inzidenz zu ersetzen, sind nicht zielführend. Die Inzidenzwerte waren im gesamten bisherigen Pandemieverlauf eng gekoppelt an nachfolgende, steigende Infektionen bei Risikogruppen, Hospitalisierungen, Intensivbettenbelegungen und Todesfälle durch COVID-19.  Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dies geändert hat. Im Gegenteil: Das Durchschnittsalter der Patienten auf den Intensivstationen lag immer schon deutlich unter 70 Jahren und sinkt derzeit.  Zudem dürfen die Langzeitfolgen einer Infektion („LongCovid“) auch bei jüngeren Menschen nicht vernachlässigt werden.

Vor diesem Hintergrund empfehlen wir dringend einen Kurswechsel hin zu einer Strategie der Niedriginzidenz. Übergeordnetes Ziel aller Maßnahmen sollte es sein, den R-Wert unter 1 zu drücken und dort zu halten, weil nur dies eine nachhaltige und strukturierte Öffnungsperspektive bietet. Eine solche Perspektive erscheint nach über einem Jahr Pandemie dringend notwendig, um den Maßnahmen eine Sinnhaftigkeit zu geben. Zudem sollte statt weiterer Einschränkungen für die Bevölkerung dringend das Pandemiemanagement schnell und entschlossen verbessert werden. Hierfür bietet der No-COVID-Vorschlag zahlreiche Ansatzpunkte in mittlerweile 9 Toolboxen. Insbesondere sind folgende Empfehlungen zu berücksichtigen: 

Wesentlich ist eine Kommunikation, die die Bevölkerung mitnimmt: Sie sollte die Ziele der Maßnahmen klar formulieren, nachvollziehbare zeitliche Horizonte aufzeigen und Voraussetzungen für Öffnungen benennen. Die Verhaltensregeln müssen konsistent und begründbar sein. Sie müssen das Wissen über Übertragungswege (insb. Aerosole) und Übertragungsrisiken (geschlossene Räume, enge Kontakte, große Gruppen) angemessen widerspiegeln. In Innenräumen außerhalb des eigenen Haushalts sollten immer FFP2-Masken getragen werden. Die Bevölkerung braucht zudem klare Empfehlungen, wie private Kontakte sicher stattfinden können. Hierfür ist die Kombination verschiedener Elemente entscheidend: Kontakte finden im Idealfall draußen statt, mit Abstand, Maske und nach einem negativen Schnelltest aller Beteiligten. 

Im Bereich des Pandemiemanagements erscheinen Teststrategien besonders wichtig. Zentrale Testbereiche sind beispielsweise Kontaktknotenpunkte in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen und Betrieben, aber auch Haushalte, in denen Selbsttests zum Einsatz kommen (No-Covid-Toolbox 5 „Teststrategien“). Zudem sind regelmäßige repräsentative Screenings notwendig, um die Datenlage über das Infektionsgeschehen zu verbessern. Außerdem muss die Kontaktnachverfolgung im Öffentlichen Gesundheitsdienst immer noch deutlich optimiert werden (Toolbox 3 „Test-Trace-Isolate“). 

Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sollten aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung auch im Pandemiemanagement Priorität genießen. Gleichzeitig muss ihr Betrieb den größtmöglichen gesundheitlichen Schutz der Kinder und Jugendlichen, ihrer Familien sowie der in den Einrichtungen Beschäftigten gewährleisten, wie dies im Detail in der Toolbox 6 „Bildung, Schulen und Kitas“ dargelegt ist.

In den neuen Toolbox 7 „Risikoinzidenz“ schlagen wir Methoden vor, mit denen die lokale Infektionslage besser eingeschätzt werden kann. Die Kenngröße Risikoinzidenz erfasst Infektionen, von denen ein erhöhtes Risiko für die Gesellschaft ausgeht, weil deren Herkunft und/oder Kontakte ungeklärt sind. Da die Risikoinzidenz entscheidend mit den Kapazitäten zur Kontaktnachverfolgung zusammenhängt, wächst ihr Anteil mit steigender Gesamtinzidenz. 

In den neuen Toolbox 8 „Einfach anfangen“ zeigen wir am Beispiel des Bundeslandes Sachsen, wie die Betrachtung kleinerer geographischer Gebiete offenbart, dass zahlreiche Gemeinden bereits eine Niedriginzidenz erreicht haben. Wir erklären, wie Regionen mit wenigen Neuinfektionen zügig und nachhaltig zu einem freieren gesellschaftlichen Leben übergehen und durch Maßnahmen, wie sie im Grüne-Zonen-Modell beschrieben wurden, geschützt werden können (Toolbox 1 „Grüne Zonen“). 

Da beim Impfen jeder Tag zählt, schlagen wir Maßnahmen vor, mit denen der Impfprozess beschleunigt werden kann (Toolbox 9 „Impfungen“). Um eine spürbare epidemiologische Wirkung zu erzielen, ist es am wichtigsten, die erste Impfdosis aus vorhandenen Lagerbeständen schnell und flächendeckend zu verabreichen sowie die maximalen Abstände auszuschöpfen. Die schnellere Verimpfung wird möglich, wenn alle Praxen der ambulanten (haus-)ärztlichen Versorgung umgehend in den Impfprozess eingebunden werden und ihnen alle nicht terminierten AstraZeneca-Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden.

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